Sonja Bühling ist eine deutsche Mezzosopranistin, die derzeit als Altistin im Chor des Staatstheaters Darmstadt singt. Geboren in Rosenheim, sie schloss ihr Studium am Mozarteum Salzburg bei Elisabeth Wilke und Helmut Deutsch mit Auszeichnung ab. Darüber hinaus war sie ebenso 2018 Stipendiatin des Richard-Wagner-Verbandes. Sie hat verschiedene Solopartien gesungen und ist seit 2018 festes Mitglied des Opernchores in Darmstadt.
Im Chor ist man Teil einer Gemeinschaft. Man macht gemeinsam Musik, ist gemeinsam im Proberaum oder auf der Bühne, und im besten Fall arbeiten alle Hand in Hand, um das beste Ergebnis zu erzielen. Ich finde es sehr besonders, Teil eines solchen Kollektivs zu sein.
D: Wir beginnen mit der traditionellen Schnellfragerunde. Welches Lied würde dich auf die Tanzfläche bringen?
S: All the Single Ladies!
D: Wer ist dein Lieblingskomponist?
S: Zum Anhören Massenet. Die Oper Manon hat mich immer fasziniert. Wegen dieser Oper hätte ich mir gewünscht, Sopran zu sein. Wenn es ums Singen geht, dann würde ich sagen: Mozart. Ich mag die Anforderungen, die Mozart an einen Sänger stellt. Obwohl es manchmal gar nicht so leicht ist. Ich finde, Mozart richtig gesungen ist aber immer sehr heilsam für die Stimme. An den Mozart-Opern mag ich auch sehr die Lebendigkeit und das Komödiantentum, das die Geschichten haben, wie z.B. Le Nozze di Figaro. Aber er hat auch gute ernste Opern geschrieben. Ich finde z.B. die Musik bei La Clemenza di Tito unfassbar toll. Es ist wie eine andere Version von Mozart, kein typischer Mozart.
D: Normalerweise würde ich dich an dieser Stelle bitten, dein Hot Toddy zu beschreiben, aber da wir gerade nicht persönlich zusammen sind, beschreibst du bitte dein Getränk in drei Worten!
S: Ich trinke gerade einen Tee, der sehr würzig und warm ist und ein bisschen nach Orient schmeckt.
D: Wir kennen uns aus der gemeinsamen Arbeit am Staatstheater in Darmstadt, wo du im Chor Alt singst. Was magst du am liebsten im Chor und warum hast du dich entschieden, im Chor zu singen?
S: Ehrlich gesagt, habe ich immer gedacht, dass ich Solosängerin werden möchte. Ich hatte zwar früher schon in Chören gesungen, aber letztlich mich selbst immer als Solistin auf der Bühne gesehen. Das änderte sich, als ich gemerkt habe, dass es zwar eine wunderbare Sache ist, Solistin zu sein, mir aber klar wurde, dass da noch so viel mehr damit verbunden ist. Als Solist muss man mit einer Menge Druck leben, zum einen der Druck, dass du deine Karriere aufbaust und von Vorsingen zu Vorsingen fährst und dort auch viele Absagen bekommst, aber auch der Druck, immer fit zu sein und abliefern zu können.
Als Solist erfolgreich zu arbeiten, ist heute sehr schwierig, weil die Konkurrenz wahnsinnig groß ist und es nicht mehr so viele Theater gibt wie früher, dementsprechend muss man immer in Bestform sein. Man hat auch nicht mehr die Zeit, sich zu entwickeln, wie man es früher hatte. Heute ist man vielleicht 2-3 Jahre lang an einem Theater, dann kommt der nächste Sänger, der deinen Platz einnimmt, bzw. für deine Karriere wäre es sogar förderlich, wenn du versuchst, in ein größeres Haus zu wechseln. Früher haben die Sänger viel länger in einem Theater gearbeitet, wo sie die Zeit bekommen haben, sich zu entwickeln.
All diese Dinge haben dazu geführt, dass ich immer weniger Spaß und Freude am Musizieren hatte. Und das ist absolut kontraproduktiv fürs Singen. Für mich war dieser Druck und die mentale Belastung zu groß, deswegen habe ich mich entschieden, für Chor vorzusingen. Mein Traum war ja nach wie vor, als Sänger auf einer Bühne am Theater zu stehen.
Ehrlich gesagt wusste ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht, ob Chorsingen für mich als Beruf wirklich in Frage kommt. Es gibt ein paar Vorurteile darüber, wie Chorsänger in Profichören angeblich so sind: dass sie keine große Motivation mehr haben, dass man eigentlich nur als Masse wahrgenommen wird und dadurch künstlerisch nicht viel vom Einzelnen verlangt wird. Und davor hatte ich Angst. Aber ich habe trotzdem die Vorsingen gemacht und wurde in Darmstadt angenommen, worüber ich mich sehr gefreut habe. Vor allem, als ich festgestellt habe, dass zumindest in Darmstadt nichts von all diesen Dingen zutrifft.
Es gibt hier viele Leute im Chor, die wahnsinnig Lust auf die Bühne haben und einen großartigen Job machen wollen, die total spielfreudig sind und einfach sprühen. Es ist eine ganz bestimmte Art von Energie, die dann entsteht. Ich weiß nicht, wie das in anderen Chören an anderen Theatern ist, aber ich empfinde es als großes Glück, dass ich in Darmstadt gelandet bin und habe gemerkt, wie sehr es mich befreit hat. Mir macht die Arbeit unglaublich Spaß und ich fühle mich auch künstlerisch gefordert.
D: Was gefällt dir noch daran, im Chor zu sein?
S: Vor allem, und das ist sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil, gefällt mir, dass man im Chor Teil einer Gemeinschaft ist. Man macht gemeinsam Musik, ist gemeinsam im Proberaum oder auf der Bühne, und im besten Fall arbeiten alle Hand in Hand, um das beste Ergebnis zu erzielen. Man erschafft gemeinsam etwas, und ich finde es sehr besonders, Teil eines solchen Kollektivs zu sein.
Es ist auch eine Art von Energie, die in der Gemeinschaft entsteht – es ist ein großer Unterschied, wenn man die Chormusik alleine einstudiert. Im Chor passiert alles gemeinschaftlich, und das kann großartig sein. Der Nachteil oder die Gefahr dabei ist, dass man weitestgehend auch als Gruppe wahrgenommen wird, und weniger als Individuum. Deshalb bist du, wie in jeder Gruppe, nur so stark wie ihr schwächstes Mitglied. Bedeutet, wenn du immer top vorbereitet bist, zuhörst und die Anweisungen des Regisseurs umsetzt, kann es dennoch jemanden geben, der das nicht so pflichtbewusst macht, und das fällt dann meistens auf die ganze Gruppe, also den Chor, zurück. Davon muss man sich versuchen abzugrenzen.
D: Hattest du Gelegenheit, Solorollen zu singen, seit du Mitglied des Chors bist?
S: Ja, das ist glücklicherweise eine Möglichkeit, die sich manchmal ergibt. Es gab gleich am dritten Tag nach meinem Start ein Vorsingen für Solorollen, da habe ich aber noch nicht teilgenommen. Ich wollte mich erst im Chor etablieren. Im Juni, also Ende der Spielzeit, erhielt ich dann eine E-Mail mit der Frage, ob ich die Rolle der Venus in der Operette Frau Luna übernehmen möchte. Das war großartig und ich habe mich unglaublich darüber gefreut! Es ist zwar nur eine ganz kleine Rolle – vielleicht drei Zeilen Solo und der Rest Ensemble – aber es macht mir wirklich unglaublich viel Spaß.
D: Im Chor muss dein Repertoire sehr breit gefächert sein. Du singst alles von Mozart bis zu unserem aktuellen Projekt ‚Requiem für einen jungen Dichter‘ des zeitgenössischen Komponisten Bernd Alois Zimmermann. Gibt es einen Musikstil, der dir schwerer fällt?
S: Zimmermann fand ich schwierig bzw. generell moderne Musik. Ich muss sagen, auch wenn ich schon moderne Musik gesungen habe und einiges davon großartig war, dauert es immer lange, bis ich es erlernt habe und bis es mir gefällt. Am Anfang finde ich es oft einfach nur anstrengend. Man muss versuchen, eine Verbindung aufzubauen, dann gewöhnt man sich daran bzw. kann sogar Gefallen daran finden. Aber das braucht manchmal Zeit.
Generell singe ich gerne romantische Musik, wo es einfach fließt und man sich mehr auf die Empfindungen konzentrieren kann. Was mich diese Spielzeit total überrascht hat, ist, dass mich die Musik von [Wagners] Lohengrin total berührt hat. Ich dachte immer, Wagner sei nichts für mich, aber während der Proben habe ich immer mehr den Bezug zu dieser Musik gefunden und sie hat mich ernsthaft bewegt.
D: Singst du im Chor anders, als wenn du eine Solorolle singst?
S: Jein. Ich finde, dass das Singen im Chor gut zu mir passt. Es ist ein Vorurteil, dass das Singen im Chor sehr anstrengend für die Stimme ist, das kann ich nicht bestätigen. (Evtl. trifft das zu, wenn man im Sopran die ganze Zeit in hohen Lagen unterwegs ist.) Ich finde es manchmal sogar sehr entspannend für die Stimme, da man nicht immer Vollgas geben muss.
Als Solistin hatte ich manchmal das Gefühl, ich müsste mehr Stimme geben, damit ich auch ja gehört werde. Das ist natürlich ein Trugschluss, denn durch Kraft erreicht man diese Reichweite nicht, sondern durch Technik. Gerade bei den Mezzorollen von Mozart, die viel im Passagio liegen, kann man sich so sehr müde singen. Ich habe festgestellt, dass ich durch die Chorarbeit viel entspannter musiziere, es bereitet mir unglaubliche Freude.
Eine wichtige technische Sache, auf die man in einem Chor achten sollte, ist, nicht zu viel Vibrato zu haben. Denn das würde den Gesamtklang der Gruppe stören. Man sollte dich auch nicht als Einzelstimme heraushören, es geht eher darum, einen homogenen Gesamtklang zu erzeugen. Da muss man sich gegebenenfalls etwas anpassen.
D: Wie lernt man die Musik auswendig? Hast du eine bestimmte Methode?
S: Wir haben als Chor genug Proben, in denen wir die Musik auswendig lernen. Manchmal gibt es schwierige Stellen, da sich die Melodie zwar wiederholt, aber mit kleinen Änderungen. In diesem Fall gehe ich die Musik zu Hause nochmal durch und versuche, mir ein System zu merken, das ist meist sehr mathematisch angelegt.
Für meine Solorollen habe ich die Texte und die Melodie teilweise stur auswendig gelernt, manchmal mit Aufnahmen von der Oper. Um zu überprüfen, ob ich es schon gut genug kann, um mich auch bei Proben auf szenische Handlungen konzentrieren zu können, habe ich nach einiger Zeit nebenher die Wohnung geputzt. So konnte ich sehen, was schon verinnerlicht war und was nicht. Meine Wohnung war zu diesen Zeiten immer sehr sauber!
D: Gibt es ein Stück, das du mal besonders gerne machen möchtest?
S: So schnell würde mir die Operette Im weißen Rößl einfallen. Ich denke, dass das total Spaß machen würde. Ich finde es gut, zwischen den ernsten und großen Opern auch mal was Lustiges und Leichtes zu machen. Deshalb hat mir Kiss Me Kate auch so viel Spaß gemacht.
D: Muss man tanzen können, um in einem Opernchor singen zu können?
S: Nein, man muss es nicht unbedingt können. Manchmal kommen kleinere Tanzeinlagen vor, aber die sind für jedermann machbar. Ich würde mir wünschen, dass das häufiger vorkommt, denn mir machen Choreographien immer großen Spaß bzw. generell, wenn viel Bewegung auf der Bühne ist. Aber eine Voraussetzung für den Opernchor ist das nicht. Bei Musical ist das so, aber das ist eine komplett andere Ausbildung.
Wir Deutschen sind uns bewusst, dass unser Land reich an Kultur und Kunst ist, und wir wollen, dass das auch so bleibt. Wir haben sechzehn Bundesländer in Deutschland, und in zwölf davon ist in der Landesverfassung verankert, dass die Kultur gefördert und erhalten werden muss.
D: Deutschland ist ein Traumland für viele Musiker aus der ganzen Welt, die hierherkommen, um in der Oper zu arbeiten. Warum ist die Oper hier so stark und wie war es für dich als Deutsche, hier aufzuwachsen? War es für dich als Kind oder Jugendlicher normal, dich für die Oper zu interessieren?
Dieses Thema finde ich total spannend. Wir haben in Deutschland tatsächlich ein Paradies an Kultur. Es gibt in Deutschland über 80 Opernhäuser und ca. 132 Orchester. Diese breite Kulturlandschaft kann vor allem bestehen, da sie vom Staat finanziert wird. In den USA z.B., wo alles privat finanziert wird, gibt es gerade mal 11 Opernhäuser.
Ich glaube, es liegt daran, dass wir Deutschen uns bewusst sind, dass unser Land reich an Kultur und Kunst ist, und wir wollen, dass das auch so bleibt. Wir haben sechzehn Bundesländer in Deutschland, und in zwölf davon ist in der Landesverfassung verankert, dass die Kultur gefördert und erhalten werden muss. Aktuell ist diese breite und vielfältige Kultur- und Orchesterlandschaft sogar für das Immaterielle UNESCO-Weltkulturerbe nominiert, das zeigt, welchen Stellenwert die Kultur in Deutschland hat, und erklärt auch die hohen Subventionen.
Durchschnittlich nimmt das Theater gerade mal zwischen 16 – 18 % der Ausgaben durch die Ticketverkäufe ein. Der Rest sind Subventionen. Der Grund für diese hohen Subventionen ist, dass Kultur für jedermann zugänglich sein soll und somit die Ticketpreise auch bezahlbar sein müssen. Ohne die Subventionen müsste das Theater die Preise viel höher ansetzen und damit könnten sich nicht alle einen Theaterbesuch leisten.
Hier in Darmstadt zahlt man zwischen 15 € und maximal 60 € für eine Karte. Der Staat zahlt dadurch ca. 100 € pro Sitzplatz dazu, um einen Theaterbesuch möglich zu machen. Oft gibt es auch Angebote für Studenten (in Darmstadt bekommen diese eine Freikarte) und Schüler. Das Argument, dass Theater zu teuer sei, ist einfach nicht wahr. Es mangelt eher an attraktiven Angeboten, um vor allem jüngere Menschen für Oper zu begeistern und sie zu informieren.
Das große Problem ist nämlich, dass das Bühnenpublikum hauptsächlich aus älteren Menschen besteht. Der Altersdurchschnitt liegt bei ca. 57 Jahren und da stellt man sich die Frage, wie das Publikum in 20 – 30 Jahren aussehen wird. Daher ist es eine wichtige Aufgabe, vor allem die jüngeren Generationen für Theater zu begeistern und sie ausreichend zu informieren.
Natürlich sind Oper und klassische Musik ein Nischenprodukt, und nicht jeder muss am Ende in die Oper gehen. Aber was ich generell nicht gut finde, ist, dass der Zugang oft nicht ermöglicht wird. Gerade in jüngeren Jahren sind Kinder sehr für Musik und Theater zu begeistern und da muss man anknüpfen und dieses Interesse weiter pflegen, so dass gar keine Hemmungen oder Vorurteile entstehen können. Ich finde es total schade, wenn sich Menschen per se vor klassischer Musik und Oper verschließen, ohne es ausprobiert zu haben. Ich finde es traurig, dass sie diese wunderbare Welt nie kennenlernen werden.
Tatsächlich hat aber Oper in meiner Kindheit auch keine große Rolle gespielt. Wir haben in einem relativ kleinen Dorf gelebt und das nächste Opernhaus war ca. 70 km entfernt. Meine Eltern sind auch selten in die Oper gegangen und haben auch kaum klassische Musik zu Hause gehört. Ich kannte zwar [Mozarts] Die Zauberflöte schon aus der Schule, aber sonst wusste ich nicht viel über klassische Musik und Oper.
Allerdings wurde ich musikalisch schon sehr früh gefördert und durfte unterschiedliche Instrumente ausprobieren. Im Kindergarten habe ich bereits Flöte gespielt und später kamen dann noch Klavier und Hackbrett hinzu. Und dann natürlich noch die Gesangsstunden. Der Weg war also geebnet, aber dennoch frage ich mich manchmal schon, wie ich zu diesem Beruf gekommen bin – bin aber wahnsinnig glücklich darüber!
D: Du hast am Mozarteum in Salzburg studiert. Wie war es, in einer Stadt zu studieren und zu leben, die Mozart so bekannt war?
Es war toll! Die Stadt ist zwar relativ klein und damals auch eher konservativ, mit leider relativ wenigen jungen Menschen, aber sie ist so reich an Kultur und so unglaublich schön. Das Mozarteum hat auch viele tolle Projekte durchgeführt: Wir sind zum Beispiel nach Italien gereist und haben dort in einem großen Amphitheater La Clemenza di Tito aufgeführt. Generell waren die Opernproduktionen immer sehr aufwendig gestaltet.
Ich habe ja eigentlich Master Lied bei Helmut Deutsch studiert, was übrigens großartig war, aber dennoch konnte ich in der Opernklasse Rollen übernehmen. Und im Sommer hatten wir die Festspiele direkt vor der Haustür. Da war die Stadt zwar ziemlich überfüllt, aber es herrschte auch immer eine total schöne Atmosphäre.
Großartig war, dass man die Chance bekommen hat, bei Projekten im Chor mitzuwirken bzw. kleine Solorollen zu ergattern. Das war wirklich Luxus für uns. Es war eine ganz besondere Stimmung. Nach den Proben saß man dann mit manchen von den großen Starsängern in einem kleinen Lokal namens Triangel neben den Festspielhäusern und es herrschte eine total lockere Stimmung. Das war wirklich ganz besonders.
Das Mozart-Thema in Salzburg kann einem aber auch lästig werden. Überall wird für Mozartkugeln geworben und manchmal hat man das Gefühl, dass die ganze Stadt nur aus Mozart-Kommerz besteht. Es waren natürlich auch immer viele Touristen in der Stadt, die wegen Mozart oder wegen The Sound of Music kamen. Ich machte eine Zeit lang auch Führungen durch die drei Festspielhäuser und hatte oft das Gefühl, dass vielen die Festspiele gar kein Begriff war. Sie wollten lediglich die Felsenreitschule sehen, wo eine Szene für The Sound of Music gedreht wurde.
D: Im vergangenen Sommer hast du die Wagner-Festspiele in Bayreuth besucht. Könntest du mir ein wenig über deine Zeit dort erzählen?
S: Ja, also es gibt schon seit Jahren ein Programm aller Wagnerverbände in Deutschland, die jeden Sommer bis zu 250 Stipendiaten aus ganz Europa (oder sogar der Welt, das weiß ich gar nicht) für ca. eine Woche zu den Festspielen in Bayreuth einladen. Das Auswahlverfahren macht jeder Verband eigenständig, manchmal muss man vorspielen bzw. vorsingen oder Aufnahmen schicken, Zeugnisse einreichen etc. Das ist ganz unterschiedlich.
Wenn man das Glück hat, ausgewählt zu werden, darf man für ca. eine Woche nach Bayreuth und sich drei Vorstellungen ansehen. Unterkunft wird bezahlt und es werden Abendessen organisiert und auch Führungen durchs Festspielhaus, durch Bayreuth, durch das Wagner-Museum etc. Man hat da ziemlich viel Programm und kann sich vor allem connecten.
Das ist eine tolle Möglichkeit, als Musikstudent die Festspiele zu besuchen, da die Karten ja wahnsinnig teuer sind. Ich finde, dass das ein großartiges Programm ist, und kann nur jedem Musiker empfehlen, sich dafür zu bewerben.
Was wir tun ist ein Austausch von Energien, und selbst wenn die Leute im Publikum keine Musiker sind, können sie diese Energie spüren und aufgreifen, was nicht zu unterschätzen ist. Wenn man einen Dirigenten hat, dessen Herz für die Musik brennt, dann macht das etwas mit mir als Sänger.
D: Was erwartest du als Chorsänger von einem Chordirektor?
S: Vor allem muss er seinen Beruf lieben. Das finde ich bei allen, die in der Kunst arbeiten, wichtig: dass sie eine Leidenschaft für das haben, was sie tun, und man diese spürt. Außerdem wünsche ich mir, dass er fair ist und keine Vorlieben für bestimmte Personen zeigt. Vertrauen und Respekt sind ebenfalls wichtig. Und dass er für den Chor einstehen kann, falls es erforderlich sein sollte.
D: Als Chormitglied bekommt man den Dirigenten viel später im Vorbereitungsprozess zu sehen. Was erwartest du als Chorsänger von ihm?
S: Bei einem Dirigenten merkt man immer, ob er Ahnung von Stimmen und vom Singen hat. Ich finde es wichtig, dass Dirigenten sich nicht ausschließlich auf den Orchesterklang konzentrieren – auf Kosten der Sänger. Das Orchester steht natürlich immer direkt vor dem Dirigenten, deshalb ist es wichtig, eine gute Balance zu finden, damit die Sängerinnen und Sänger gehört werden können.
Einige Dirigenten sehen ihre Arbeit mit dem Orchester als das Wichtigste an und scheinen die Sänger zu vergessen, das ist dann schade, denn dann funktioniert der Gesamtklang nicht mehr. Und ein Dirigent sollte einen klaren und lesbaren Schlag haben.
Was mir auch gefällt, ist, wenn ein Dirigent so voller Leidenschaft und Energie ist, dass man das Gefühl hat, er würde für seine Arbeit sterben. Das ist deshalb so wichtig, weil das, was wir tun, ein Austausch von Energien ist, und selbst wenn die Leute im Publikum keine Musiker sind, können sie diese Energie spüren und aufgreifen, was nicht zu unterschätzen ist.
Wenn man einen Dirigenten hat, dessen Herz für die Musik brennt, dann macht das etwas mit mir als Sänger. Ich hätte gerne mehr Dirigenten mit dieser Energie und Bereitschaft, vollen Einsatz geben. Viele Dirigenten sind zwar korrekt und machen alles „richtig“, aber sie tragen die Sänger nicht.
D: Was erwartest du von einem Regisseur?
S: In erster Linie, dass er ein Konzept hat, wenn die Proben beginnen. Unsere Aufgabe im Chor ist es, die Musik gut vorzubereiten, so dass die szenischen Proben reibungslos verlaufen, und diese Vorbereitung erwarte ich von einem Regisseur auch. Im besten Fall will er durch das Stück ja etwas ausdrücken. Das bedeutet nicht, dass mir das Konzept gefallen muss, aber es muss stimmig sein.
Ich finde auch, dass man ruhig was Innovatives wagen darf, wenn es gut durchdacht ist. Ich denke, dass Opern manchmal als zu “heilig” angesehen werden und dass es ein unausgesprochenes Gesetz gibt, dass nicht verändert werden darf. Ich glaube, wenn die Komponisten und Librettisten heute noch hier wären, würden sie selbst ganz viel ändern.
Beethoven hat zu seiner Zeit schon versucht, seine eigenen Werke abzuändern und den Leuten Neues schmackhaft zu machen, allerdings ohne großen Erfolg. Oder auch Picasso hat oft dasselbe Werk auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Stilen gemalt. Das ist Kreativität! Man nimmt etwas, bricht es auf, verbiegt es und schafft etwas Neues. Etwas Neues entsteht nie aus dem Nichts, es baut meistens auf etwas Vorhandenem auf und wird abgeändert. Und manchmal ist das ein großer Gewinn und manchmal auch nicht. Aber ich glaube, dass wir uns das viel öfter trauen dürfen.
In unserer Fidelio-Inszenierung wurde das zum Beispiel so gemacht. Natürlich gab es ein paar, die gesagt haben, dass man das nicht machen könne und dass man Beethoven damit schaden würde. Es wurde im Finale etwas von Beethovens Musik herausgeschnitten und teilweise durch neu komponierte Musik ersetz. Das Ganze war gut durchdacht und hatte ein schlüssiges Konzept, warum soll man so etwas denn nicht mal wagen? Ich sage nicht, dass man das nun mit allen Opern und ständig machen soll, aber unsere Welt entwickelt sich so schnell, warum können sich die Stücke nicht ein wenig mit ihr entwickeln?
Ich denke, dass Opern manchmal als zu “heilig” angesehen werden und dass es ein unausgesprochenes Gesetz gibt, dass nicht verändert werden darf…Picasso hat oft dasselbe Werk auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Stilen gemalt. Das ist Kreativität!
D: Welchen Rat hast du für jemanden, der in einem Opernchor singen möchte?
S: Ich glaube, man muss es wirklich wollen, und nicht, weil die Arbeitsbedingungen besser sind oder weil die Solokarriere nicht geklappt hat. Sonst würde man immer hinterfragen, ob es die richtige Entscheidung war. Und wenn man lieber Solist sein will, dann kann es einen auch frustrieren, wenn man „nur“ im Chor steht und andere als Solisten vorne. Und dann kommen schnell so Gedanken wie: „Ich könnte das besser” etc..
Man braucht das Gefühl, dass man in den Chor gehört. Für mich war das anfangs nicht ganz so klar aus besagten Vorurteilen, aber ich habe schnell gemerkt, dass es der richtige Platz für mich ist. Zusätzlich wäre es gut, wenn man empathisch ist und auch eine soziale Ader hat, denn wir arbeiten immer sehr eng und viel zusammen, mehr als man es in „normalen“ Unternehmen tun würde.
D: Wie sieht die Zukunft der Oper aus? Fühlst du dich als Deutsche für das deutsche Opernsystem verantwortlich?
S: Das ist eine sehr spannende Frage. Ich glaube, dass es Veränderungen geben muss, aber nicht unbedingt bei der Kunst, sondern vielmehr bei den äußeren Bedingungen. Wir müssen vor allem die jüngeren Generationen für Oper und klassische Musik begeistern und Vorurteile abbauen, aber ich bin mir sicher, die klassische Musik wird noch lange nach uns Bestand haben.
Wir müssen uns fragen, warum das Publikum eher älter ist und was junge Menschen davon abhält, ins Theater zu gehen. Klar bringt ein Theaterbesuch ein paar Einschränkungen mit sich: man muss stillsitzen, man muss zu einer bestimmten Zeit da sein, der Ticketkauf ist noch nicht über App möglich und manche Leute meinen, es gäbe eine Kleiderordnung. Das sind sicherlich alles Faktoren, die mitschwingen. Vielleicht fühlen sich manche auch nicht gebildet genug und haben Angst, der Handlung nicht folgen zu können. Und natürlich ist das alternative Freizeitangebot extrem hoch.
Andererseits glaube ich auch, dass, je digitaler das Leben für die Menschen wird, sie sich umso mehr wieder nach dem Echten, nach dem Live-Erleben sehnen werden. Daher denke ich, dass die Oper noch lange nicht passé ist. Für mich ist Oper die höchste Kunstform, die existiert, da sie so viele unterschiedliche Kunstformen vereint.
Man hat Musik, aufgeteilt in Orchester und Sänger, Tanz, Text, Handlung, Bühnenbild und Kostüme. Es gibt keine andere Kunstform, die das bieten kann. Deswegen finde ich es so schade, wenn Menschen sich davor verschließen, ohne es ausprobiert zu haben. Es ist wirklich eine ganz wunderbare, magische Welt!
Vielen Dank an Sonja Bühling für ihre Einblicke in das deutsche System und das Chorleben! Mehr über ihre Arbeit können Sie auf ihrer Website hier erfahren. Ihre Gedanken zum Interview und Ihre Vorschläge für die Zukunft können Sie uns in der Kommentare mitteilen.
Anmerkung und Links
- Das Passaggio ist ein Begriff, der im klassischen Gesang verwendet wird, um den Übergangsbereich zwischen den Stimmlagen zu beschreiben. Ein Hauptziel der klassischen Gesangsausbildung im klassischen Stil ist die Beibehaltung einer gleichmäßigen Klangfarbe während des gesamten Passaggios.
- Mehr über das Mozarteum und wie man dort studieren kann, erfahren Sie hier auf der Website des Mozarteums.
- Die Salzburger Festspiele feiern im Jahr 2020 ihr 100-jähriges Bestehen und werden dieses Jahr aufgrund von Covid-19-Beschränkungen in verkürzter Form durchgeführt. Auf der Website der Salzburger Festspiele können Sie den Inhalt hier einsehen.
- Die Bayreuther Festspiele sind dieses Jahr aufgrund von Covid-19 leider vollständig eingestellt worden. Mehr über die Bayreuther Festspiele erfahren Sie hier auf Ihrer Website.