Ralph Strehle ~ Performance Coach

Wie sollten Musiker mit dem Druck umgehen, der mit unserer Karriere einhergeht? Während Sportler und Sportlerinnen große Teams von Leistungstrainern um sich herum haben, sind Musiker und Musikerinnen in der Regel auf sich allein gestellt, um mit den Belastungen und Enttäuschungen einer sehr anspruchsvollen Karriere fertig zu werden. Bis jetzt…

Es war großartig, mit Ralph Strehle, einem Deutschen, den ich zum ersten Mal in Glasgow traf, über seine Rolle als Performance Coach für junge Musiker und das Mascarade Opera Studio in Florenz zu sprechen, in dem er ein wichtiger Teil ist. 

Deutsche Übersetzung von Sonja Bühling

Wenn sich ein Neurowissenschaftler die Struktur der Entscheidungsfindung im Sport und in der Kunst anschauen würde, würde er etwas sehr Ähnliches sehen. Der Unterschied besteht darin, dass man als Sportler seine Emotionen vielleicht wirklich ausblenden möchte. Als Musiker wollen wir das nicht tun – wir wollen unsere Emotionen kanalisieren und kommunizieren.

Wenn du beruflich etwas anderes machen würdest, was wäre deine Traumkarriere gewesen?

 

Ein Fußballmanager in der Premier League!

 

Was würde dich auf die Tanzfläche bringen?

 

Ich bin ein schrecklicher Tänzer. Es müsste etwas von Queen sein.

 

Wenn du mit einer berühmten Person aus der Geschichte zu Abend essen könntest, wen würdest du wählen?

 

Nelson Mandela.

 

Hast du eine Lieblingsoper?

 

Tosca.

 

Lieblingskomponist?

 

Strauss.

 

Kannst du dein Hot Toddy mit drei Worten beschreiben?

 

Robust, warm und erquickend!

Die Stadt Florenz, wo das Opernstudio Mascarade seinen Sitz hat.

Ich hatte ein Spiel mit der deutschen U-14-Nationalmannschaft – meine Sternstunde! Aber schon damals hörte ich zur Aufmunterung meiner Psyche Opern, vor allem Pavarotti.

Wie wurde dein Interesse für die Oper geweckt?

 

Es war ein Freund, der eigentlich in Musicals gesungen hat. Ich habe im Gegensatz zu ihm erst sehr spät mit dem Singen begonnen. Ich war verblüfft von der Kraft, die die menschliche Stimme haben kann. Damals wusste ich noch nichts über Technik oder Belting und den Unterschied zwischen Oper und Musical, aber ich dachte nur an die Fähigkeit einer menschlichen Stimme, zu entwerfen und manchmal so viel Klang in einem winzigen Körper zu erzeugen – ich dachte:  „Wow, darüber will ich etwas lernen.“

 

 

Wie hat dich das zu dem geführt, was du jetzt machst?

 

Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, war meine große Leidenschaft Fußball, und ich wollte Profifußballer werden. Das war das Ziel. Ich hatte ein Spiel mit der deutschen U-14-Nationalmannschaft – meine Sternstunde! Aber schon damals hörte ich zur Aufmunterung meiner Psyche Opern, vor allem Pavarotti. Ich begann, ein Jahr lang Jura zu studieren, wechselte dann in die Geisteswissenschaften und studierte Deutsch und Englisch. Dann ging ich im Rahmen eines Austauschs nach London, blieb dort und promovierte in englischer Literatur und philosophischer Ethik.

 

Ich begann zu singen, weil ich bei meinen Vorlesungen keine Mikrofone benutzen wollte. Ich liebte es. Dann ging ich an die Royal Scottish Academy1 und absolvierte ein Postgraduiertenstudium in Operngesang. Danach sang ich ein bisschen im Chor der Schottischen Oper und machte einige kleinere Produktionen in Deutschland, aber ich war ein bisschen wie Jose Mourinho im Fußball – ich war nicht ganz der Star. Ich war immer mehr an der Psychologie des Fußballs interessiert.

 

Als ich meine erste Probespiel-Tournee in Deutschland machte, traf ich mich mit einem Sportpsychologen der Universität Strathclyde und fragte ihn: “Wie bereiten Sie Ihre Spieler auf einen Wettbewerb vor, oder auf etwas, das potenziell ziemlich stressig ist? Was machen Sie?“ Das fand ich wirklich interessant. Meinen zweiten Doktortitel erwarb ich dann in Aufführungspsychologie, und anschließend arbeitete ich am Königlichen Konservatorium von Schottland und am National Opera Studio2.

 

‘Es ist wie in der Formel 1 – Lewis Hamilton tüftelt, sucht nach den 5 oder 10 Prozent, die den Unterschied ausmachen’.

 

Erzähl mir vom Mascarade Opera Studio, das sich derzeit im ersten Jahr befindet. Wie unterscheidet es sich von anderen Opernstudios?

 

Das Mascarade Opera Studio ist das Ergebnis meiner Forschungen auf dem Gebiet der Aufführungspsychologie und geht auf meine Arbeit mit Sängerinnen und Sängern mit Postgraduiertenabschluss und professionellen Sängern zurück. Es stützt sich auch auf die Arbeit, die ich mit dem Sportpsychologen gemacht habe, wo wir uns mit Dingen wie Leistungsprofilerstellung und Leistungsmanagement im Sport befasst haben und wie wir so etwas in die Musikwelt übertragen können.

 

Ich habe auch effektive Übungstechniken an der RCS unterrichtet, so dass das Mascarade Opera Studio für mich eine Chance war, ein Opernprogramm aufzubauen, das auf der Aufführungspsychologie basiert. Wir holen nicht nur Musiktrainer und Gesangsberater ins Studio, sondern schauen, wie wir diese Besuche sinnvoll miteinander verbinden können. Das benötigt Zeit und bedeutet, dass wir nicht zu viele Personen gleichzeitig kommen lassen wollen. Wir haben höchstens eine Person pro Woche oder eine Person pro zwei Wochen, die für drei oder mehr Tage bleibt, so dass genügend Zeit bleibt, um das Feedback zu verarbeiten, es umzusetzen und durchzuarbeiten. Es ist eine ständige Analyse des Geschehens, ein Feedback- und Feed-Forward-Verfahren.

 

Ich führe mit den jungen Künstlern viele Videoanalysen durch, mache ebenfalls ein Stärken-Profiling, überlege, was ihre Stärken und Schwächen bei der Performance sind, und dann entwickeln wir Strategien. Ich gehe in ihre Übungsstunden und sitze einfach nur da und schaue zu. Wenn man einen Beobachter hat, verändert sich natürlich die Umgebung, aber es gibt einem eine sehr gute Vorstellung davon, was passiert und wie sie ihre Übungszeit strukturieren.

 

Im Moment ist die Übungszeit sehr wichtig, weil sie ein ziemlicher Luxus ist, und ein Luxus, den sie auf der Ebene des Konservatoriums eigentlich oft nicht haben, weil sie dort meiner Meinung nach zu oft spielen? Ich glaube, das ist ein Problem, das betrachtet und vielerorts gelöst wird, weil sie die Relevanz von Verbesserungen auf andere Weise als nur durch Leistung erkennen müssen.

 

Ein großer Teil der Arbeit, die ich hier mache, besteht darin, dass die jungen Künstler einen aufgabenorientierten Ansatz für ihre Arbeit finden, der mit einer bewussten Praxisorientierung verbunden ist, und sie so in ihrer Arbeitsweise viel scharfsinniger und gezielter werden.

 

Es ist wie in der Formel 1 – Lewis Hamilton tüftelt, sucht nach den 5 oder 10 Prozent, die den Unterschied ausmachen. Sie alle haben gute Instrumente, sie alle haben Talent oder hohe Fähigkeiten, aber am Ende geht es darum, ob sie bereit sind, für diese letzten 5 Prozent die Arbeit zu leisten, die sie von den anderen unterscheiden wird.

 

Welches sind die wichtigsten Wege, auf denen junge Künstler unterstützt werden müssen?

 

Ich denke, sie müssen lernen, selbstbestimmt und autonom zu sein. Die Aufgabe eines jeden Coaches oder Lehrers sollte es sein, sie freizugeben und ihnen das Handwerkszeug zum Arbeiten zu geben. Das ist leichter gesagt als getan! Es ist also eine Aufhebung des Urteils von allen Seiten gegenüber etwas, das viel praktischer und aufgabenorientierter ist. Sie müssen Verantwortung für das übernehmen, was sie tun. Sie brauchen objektive Beurteilungen, damit sie nicht irgendwo mit ihren eigenen Kommilitonen in einer Blase leben. Das ist etwas, was meiner Meinung nach noch nicht wirklich europaweit stattgefunden hat, nämlich zu sagen: “Ich brauche jemanden, der objektiv von außen kommt.“

 

Im Vereinigten Königreich konzentrieren wir uns sehr auf die Qualitätssicherung, aber es gibt keine Qualitätssicherung im Karrieremanagement. Es gibt auch keine Qualitätssicherung im Einzelunterricht, was ungeheuerlich ist! Es ist auch wichtig, dies mit einer mentalen Vorbereitung für das Selbstvertrauen und die Selbstbestimmung in einer Aufführungssituation zu kombinieren. Oft sind sie auf der Bühne in einem Kostüm bei einer Oper recht gut, aber das lässt sich nicht unbedingt auf eine Vorsingsituation oder auf ein Konzert übertragen, daran arbeiten wir also alle.

 

 

Warum wurden diese Probleme deiner Meinung nach bisher von den Musikhochschulen übersehen?

 

Ich denke, es ist eine strukturelle Sache. Es ist auch eine Sache der Lehrer, das Studio auf diese Weise zu öffnen. Ich glaube, die pädagogische Ausbildung ist nicht immer so gut, wie sie sein könnte. Wissen Sie, wie man Feedback geben kann? Welche Art von Feedback und wann? Dein eigenes Ego als Lehrer oder als Coach außen vor lassen, sehen, was die Person vor dir braucht, und nicht, was du fühlst – das ist es, was sie tun oder nicht tun sollten. Es ist eine komplizierte Sache, aber ich glaube, da ist etwas nicht ganz richtig.

 

Eine Aufführung beim New Generation Festival, das mit dem Opernstudio Mascarade verbunden ist.

Wir sind keine Therapeuten – die Transformation besteht darin, die Persönlichkeit zu betrachten und zu sehen, wie man aus verschiedenen Erfahrungen lernt. Meine Erfahrung in der Arbeit mit Sängern ist, dass sie sich oft nicht bewusst sind, wie belastbar sie bereits sind und wie gut sie in Situationen, in denen Druck herrschte, zurechtkamen.

Wie hilfst du jungen Künstlern, den Sprung vom Studium auf die berufliche Ebene zu schaffen? Welche Qualitäten brauchen sie?

 

Ich glaube, es ist eine Kombination von mehreren Sachen. Es sind Menschen, die wissen, wie sie sich in verschiedenen Kontexten verhalten müssen. Sie sind anpassungsfähig und belastbar. Sie können mit Rückschlägen umgehen und sie genießen den Erfolg, wissen aber dennoch, dass noch Arbeit vor sich haben. Sie haben den Wunsch zu lernen, sie schaffen Möglichkeiten und sie bauen und pflegen gute Netzwerke. Ich denke, bei der Anzahl an Sängerinnen und Sängern, die jetzt auf den Markt kommen, ist es für Agenturen fast unmöglich, sie alle aufzunehmen und zu betreuen, daher ist ein gutes Netzwerk sehr wichtig.

 

Welche Strategien und Strukturen sind nötig, um sich als Profi weiterzuentwickeln, wenn man eine Opernkarriere eingeschlagen hat?

 

Wir bieten sowohl transformatives Coaching als auch Coaching für Aufführungen an. Beim transformativen Coaching geht es um die Übereinstimmung von Werten in der Welt eines Künstlers und darum, wie er sein Aufführungsumfeld, sein persönliches Lebenswerk konzipiert und welche Werte er dem zuordnet. Das kann manchmal problematisch sein. Nehmen wir an, Sie haben jemanden, der sehr engagiert ist. Sie können in ihrem persönlichen Leben manchmal zu viel anstreben, und das manifestiert sich in der Performance. Der transformative Aspekt wäre es, sich anzusehen, was diese Person auf diese Weise antreibt. Oft hat das nicht unbedingt etwas mit Leistung zu tun – es kann mit einer Vielzahl von Erfahrungen zusammenhängen, und wir versuchen, ein wenig damit zu arbeiten.

 

Wir sind keine Therapeuten – die Transformation besteht darin, die Persönlichkeit zu betrachten und zu sehen, wie man aus verschiedenen Erfahrungen lernt. Meine Erfahrung in der Arbeit mit Sängern ist, dass sie sich oft nicht bewusst sind, wie belastbar sie bereits sind und wie gut sie in Situationen, in denen Druck herrschte, zurechtkamen. Dann wird ihnen bewusst, was sie bereits tun, und dass sie Strategien einsetzen.

 

Der andere Aspekt ist das Performance-Management, bei dem wir uns Ihre Routinen vor der Aufführung ansehen – was machen sie vor einer Aufführung, welche Vor-Visualisierung machen sie? Welche Stichwörter, welche Art von Rettungsstrategien haben sie im Einsatz? Was sind die “Was-wäre-wenn”-Szenarien? Was ist, wenn ich zu einem Vorsingen gehe und drei Baritone vor mir stehen und sie alle herrlich klingen? Wenn das passiert, wie werde ich dann auf diese Situation reagieren? Das ist alles eine Vor-Aufführung.

 

Das Performance-Management baut dann auf den positiven Aspekten auf, um sicherzustellen, dass man nicht überengagiert wird. Was sind die Dinge, die einen zurückhalten? Es ist wichtig, dafür zu sorgen, dass der Fokus der Aufmerksamkeit darauf gerichtet wird, wo er sein muss – es gibt immer wieder Momente, in denen Sänger zum Beispiel den Dirigenten ansehen müssen, somit können sie sich nicht zu sehr auf das Drama auf der Bühne einlassen. Wichtig ist auch das Feedback nach der Aufführung. Sie müssen distanzierter darauf schauen, was gut gelaufen ist, was besser hätte laufen können und was sie aus der Situation mitnehmen können, um beim nächsten Mal besser zu werden.

 

Ich nehme an, die Herausforderung besteht darin, diese Dinge festzuhalten, denn manchmal lernt man etwas, und im nächsten Moment ist es schon wieder aus dem Sinn!

 

Das ist so etwas wie Mentalhygiene. Sie muss Teil Ihrer Praxis sein, auch wenn es nur zehn oder fünfzehn Minuten am Tag sind. Wenn Sie eine junge Sängerin oder einen jungen Sänger fragen, was ihre Stärken sind, ist es erstaunlich, wie gut sie oder er darauf hinweisen kann, was nicht so gut ist. All diese Routinen dauern mindestens vier bis fünf Wochen.

 

Vor allem die Visualisierung muss Teil der Übungsroutine sein. Das ist schwierig, denn Besonderheiten sind immer unterschiedlich, aber wenn Sie in einem Opernhaus singen werden, können Sie sich mit allen Sinnen vorstellen, wie es aussehen wird, wie Sie sich sicher fühlen, was Sie tun werden, wenn Sie auf die Bühne gehen, wie Sie Ihren eigenen Klang spüren können. Dann können Sie ein Stück wirklich durcharbeiten, es ist also Ihre beste Aufführungsroutine. Es gibt viele Möglichkeiten, das zu tun. Sie können assoziativ sein, indem Sie sich in Ihren Körper hineinversetzen, oder dissoziativ, indem Sie sich vorstellen, sich von außerhalb des Körpers zu betrachten, so dass Sie ein objektiveres Bild bekommen.

 

‘Wenn man sich Cristiano Ronaldo mit einem Fußball ansieht, ist das nichts vorprogrammiert’.

 Ich glaube, es ist auch wichtig, dass Sie wissen, was Ihre persönlichen Werte sind. Wenn Sie jemand sind, der eine sehr starke Bindung oder Beziehung braucht, müssen Sie Ihre Grundbedürfnisse nähren.

Welche Qualitäten braucht man, um eine Karriere langfristig zu sichern?

 

Sie müssen sehr gut darin sein, ihr eigenes Tempo zu bestimmen, und sie müssen Vorstellungen über die Rollen haben, die sie auf jeder beliebigen Bühne singen sollen , was damit zusammenhängt, ein starkes Netzwerk zu haben. Sie brauchen eine Handvoll Leute, die Ihnen Klang-Feedback und Ratschläge geben, denen Sie in Bezug auf die Rollen, die Sie singen sollten, vertrauen, und die die Kraft haben, Nein zu sagen, wenn etwas auftaucht, das außerhalb Ihres Fachs3 liegt, was Ihnen nicht hilft, sich zu entwickeln.

 

Das ist sehr schwierig – ich verstehe das. Sie müssen bestimmte mentale Qualitäten oder psychologische Fähigkeiten haben, wie zum Beispiel Belastbarkeit. Ich glaube, es ist auch wichtig, dass Sie wissen, was Ihre persönlichen Werte sind. Wenn Sie jemand sind, der eine sehr starke Bindung oder Beziehung braucht, müssen Sie Ihre Grundbedürfnisse nähren. Was die Motivation betrifft, so haben wir Grundbedürfnisse – Kompetenz, Verbundenheit von Eigenverantwortlichkeit. Sie müssen erfüllt sein, um in dem, was wir tun, glücklich zu sein.

 

Ein guter Mensch weiß, wie man diese erfüllt, und umgibt sie selbst mit Menschen, die ihnen Sinn und Zweck geben. Sie müssen sich im Bewusstsein ihrer Fähigkeiten kompetent fühlen, damit sie die Arbeit erledigen können und keinen Stress empfinden. Auch das ist nicht einfach!

 

Wie sollten Sie mit einer Situation umgehen, in der Ihre Mentoren Ihnen dann widersprüchliche Ratschläge geben?

 

Ich denke, widersprüchliche Ratschläge sind nicht unbedingt etwas Schlechtes. Es kann oft eine ästhetische Entscheidung sein, eine Geschmacksfrage, und am Ende muss man die Verantwortung dafür übernehmen. Also entscheidet man sich als Darsteller, und damit muss man leben können. Wir müssen unter diesen Umständen Verantwortung für unser Handeln übernehmen.

 

Du sagtest, dass Menschen auf unterschiedliche Weise motiviert sind. Findest du, dass jeder Mensch auf eine andere Art und Weise motiviert wird, oder kannst du das auf einige wenige Eigenschaften reduzieren, die die meisten Menschen antreiben?

 

Das ist eine heikle Frage, denn Menschen werden von den Werten angetrieben, die sie vertreten, von ihrer Erziehung und ihrer Geschichte. Ich denke, man muss die Verantwortung für die individuelle Geschichte dieser Person übernehmen; ihrer Auftrittshistorie, Unterrichtsvorgeschichte, was immer sie mitbringt. Als Performance Coach muss ich sie so akzeptieren, wie sie kommen. Ich kann nicht sagen “das ist gut” oder “das ist schlecht”, sondern ich muss sie dort abholen, wo sie gerade stehen, und dann müssen wir darüber reden. Ich glaube nicht, dass man das verallgemeinern kann.

 

Du hast deine Arbeit mit dem Sporttrainer erwähnt. Würdest du sagen, dass dein Ansatz der Arbeitsweise von Sporttrainern ähnlich ist?

 

Es ist ganz anders! Ich glaube, es gibt einen wesentlichen Unterschied. Ich glaube nicht, dass in der Musik alles strukturiert sein muss, obwohl das im Sport auch nicht immer der Fall ist. Man muss den Menschen Kreativität geben – in der Lage sein, im Moment eine ästhetische Wahl zu treffen, die nicht vorprogrammiert ist. Man muss ein hohes Können haben, das im Moment der Aufführung so abgerufen werden muss, dass es Flexibilität braucht. Wenn man singt, ruft man nicht nur ein Programm ab. Man muss verschiedenes damit machen können, auch wenn dies auf der Grundlage eines wirklich guten Könnens geschieht.

 

Wenn man sich Cristiano Ronaldo mit einem Fußball ansieht, ist das nichts vorprogrammiert. Wenn sich ein Neurowissenschaftler die Struktur der Entscheidungsfindung im Sport und in der Kunst anschauen würde, würde er etwas sehr Ähnliches sehen. Der Unterschied besteht darin, dass man als Sportler seine Emotionen vielleicht wirklich ausblenden möchte. Als Musiker wollen wir das nicht tun – wir wollen unsere Emotionen kanalisieren und kommunizieren. Das ist eine ganz andere Situation, die eine Herausforderung darstellt.

 

Dies scheint mir ein sehr bahnbrechender Ansatz zu sein, über die Aufführungspraxis nachzudenken. Warum wird das in den Künsten nicht öfter so praktiziert?

 

Ich glaube, meine Stelle ist die einzige ihrer Art in der Welt. Es gibt andere Programme für junger Künstler, die natürlich Performance-Psychologen haben, aber sie strukturieren und leiten das Programm nicht und verbinden die verschiedenen Veranstaltungen miteinander. Erst in den letzten zehn Jahren haben wir begonnen, über die psychische Gesundheit und die Gesundheit von Musikern nachzudenken. Das war vorher kein Thema. Es war da, aber niemand hat darüber gesprochen.

 

Die Räumlichkeiten des Opernstudios Mascarade in Florenz.

Die Sängerinnen und Sänger müssen auch Verantwortung für ihre Karriere übernehmen und sich sehr klar über ihr Erwartungsmanagement sein. Die Technologie und die sozialen Medien sind zu viel für mich. Sie erzeugen einen schrecklich hohen Druck für alle, besonders für junge Sängerinnen und Sänger, da jeder ständig sagen muss, wo er ist und was er tut, und das ist Unsinn.

Wie siehst du als Deutscher, der das Land verlassen hat, das deutsche Opernsystem im Vergleich zu Großbritannien?

 

Ich denke, es gibt einen Unterschied zwischen der Ebene der Musikhochschulen und der Opernindustrie. Es gab einen Bericht in der Bertelsmann Stiftung, Beruf Opernsänger4, der im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde. Darin wurde untersucht, auf welcher Ebene die deutschen Musikhochschulen angesiedelt sind, welche Erwartungen die Branche derzeit hegt und wie sich dies auf Agenturen, Opernstudios, Ensembles und Theater auswirkt.

 

Mit Covid ist alles in der Schwebe, und in gewisser Weise halte ich es für eine große Chance, ein System umzustrukturieren, das sehr aufgebläht ist und in dem es zu viele Interessengruppen gibt. Wir müssen uns wieder darauf konzentrieren, was Kunst ist und was Kunst braucht, und uns von einem Teil des Ballasts befreien.

 

Was die Musikhochschulen betrifft, so ist Großbritannien sehr stark, und wenn man sich das deutsche System der Festanstellung5 ansieht, findet man in Stadttheatern/Landestheatern viele britische Sängerinnen und Sänger, also machen sie dort sicherlich etwas richtig. Der Markt ist international wirklich klein, und je mehr man an die Spitze zu den Leuten schaut, die tatsächlich die Entscheidungen treffen, desto mehr scheinen die Jurys immer die gleichen Leute zu sein. Ich glaube, das Vereinigte Königreich ist etwas abgeschotteter.

 

Mir gefällt das deutschsprachige System – ich glaube, das Festanstellungssystem könnte ein wirklich guter Weg für einen jungen Künstler sein, sich zu entwickeln, wenn es verantwortungsvoll gehandhabt wird. Aber man muss sich um sie kümmern, und es gibt eine Fürsorgepflicht, von der ich nicht sicher bin, ob sie immer vorhanden ist. Ich glaube, es gibt zu viele Agenturen.

 

PR und Marketing haben die Macht übernommen – jeder muss das heutzutage haben bzw. machen und Zeit auf Instagram/Facebook und Twitter verbringen, während sie diese Zeit eigentlich im Übungsraum verbringen sollten, so dass es eine Verschiebung gibt, die ein wenig in die falsche Richtung gegangen ist. Es gibt jetzt so viel rund um den Beruf, dass wir uns vom Kern – dem, was wir eigentlich tun – entfernt haben.

 

Die Sängerinnen und Sänger müssen auch Verantwortung für ihre Karriere übernehmen und sich sehr klar über ihr Erwartungsmanagement sein. Die Technologie und die sozialen Medien sind zu viel für mich. Sie erzeugen einen schrecklich hohen Druck für alle, besonders für junge Sängerinnen und Sänger, da jeder ständig sagen muss, wo er ist und was er tut, und das ist Unsinn. Ich freue mich sehr, wenn ich auf einen Namen stoße, der keine Website hat! Eine Präsenz in sozialen Medien ist schwer aufrechtzuerhalten.

 

Worauf achtest du bei der Auswahl von Sängern für das Opernstudio?

 

Auf die Persönlichkeit. Das Niveau, auf dem wir arbeiten, ist sehr spezifisch in unserer Zielsetzung. Wir sind nicht einem Theater verpflichtet, was bedeutet, dass wir Zeit haben, die Sänger in Ruhe auszubilden und sie dann nach neun Monaten weiterziehen zu lassen, z.B. in ein größeres Opernstudio – den Weltklasse-Opernstudios – oder zu Festspiel-Ensembles und Agenturen. So suche ich natürlich nach einer kompetenten Sängerin oder einem kompetenten Sänger, und sie verfügen über die entsprechenden Fähigkeiten, aber ich bin wirklich an ihrer Denkweise interessiert.

 

Ich bekomme eine Vorstellung von ihrem Selbstbild, ob sie wissen, was sie tun müssen und woran sie arbeiten müssen und ob sie ihre Stärken oder Schwächen kennen. Auch, wer sie als Person sind und ob sie ihre Werte kennen und wissen, was sie tun wollen. Die Menschen, die hierher kommen wollen, sind in der Regel auch die Menschen, die wir wollen, weil sie in einer Situation sind, in der sie wissen, dass sie vielleicht noch nicht reif sind für die Bayerische Staatsoper oder den Lindemann6, und das ist an sich eine gute Sache.

 

Sie brauchen Selbstbewusstsein, Persönlichkeit, Freude und eine offene Geisteshaltung. Auch das Vertrauen, dass sie es schaffen können, wenn sie ein bisschen mehr Arbeit hineinstecken.

 

Es gibt jetzt eine Generation von jungen Darstellern, die wissen, was der Markt braucht, die selbstbewusst und teamfähig sind.

Wie wird die Oper in 100 Jahren aussehen? Bist du hoffnungsvoll für die Zukunft der Branche?

 

Ich bin unglaublich hoffnungsvoll. Ich habe in den letzten Monaten mit so vielen Schauspielern, Agenten und jungen Regisseuren gesprochen, die in ihren Dreißigern und Vierzigern sind. Es gibt jetzt eine Generation von jungen Darstellern, die wissen, was der Markt braucht, die selbstbewusst und teamfähig sind. Ob das auf die nächsten 100 Jahre projiziert wird, weiß ich nicht, aber ich hoffe, dass wir in naher Zukunft einen großen Wandel erleben werden.

 

Der Markt hat sich verändert, und das müssen wir akzeptieren. Es ist wichtiger geworden, ein Teamplayer zu sein, der über gute zwischenmenschliche Fähigkeiten verfügt, und das wollen wir. Es ist Engstirnigkeit und das Konkurrenzdenken, das ich nicht ausstehen kann. Wir wollen mit Menschen zusammenarbeiten und kooperieren – dann können wir etwas erreichen. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir etwas Schönes erschaffen.

 

 

Anmerkungen und Links

  1. Heute bekannt als das Royal Conservatoire of Scotland (RCS), Schottlands führende Musik- und Schauspielschule mit Sitz in Glasgow.
  2. Ein Opernstudio mit Sitz in London, das Sänger und Pianisten ein Jahr lang ausbildet.
  3. Fach, (pl. Fächer) – Operngesangspartien im deutschsprachigen Raum werden nach dem System “Fach” kategorisiert. Jedes Fach entspricht einem Gesangstyp, und mit ihm gehen bestimmte Rollen einher. Beispiele für Fächer sind Dramatischer Sopran, Koloratursopran oder Heldentenor.
  4. Eine deutsche Organisation, die evidenzbasierte Forschung in verschiedenen Berufsfeldern betreibt.
  5. Das System vor allem in der deutschsprachigen Opernwelt, wo eine Sängerin oder ein Sänger für einige Jahre eine Vollzeitbeschäftigung an einem Theater haben kann.
  6. Das Lindemann Opernstudio in der Hauptausbildung in Verbindung mit der Metropolitan Opera in New York.
  • Mehr über das Mascarade Opernstudio, die Arbeit von Ralph dort und wie Sie sich bewerben können, erfahren Sie hier auf der Website des Lindemann Opernstudios.

 

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