Daniel Cohen ~ Dirigent/GMD

Daniel Cohen ist ein israelischer Dirigent, der seit 2018 Generalmusikdirektor1 des Staatstheaters Darmstadt ist, eine Aufgabe, die er mit einer internationalen Dirigentenkarriere verbindet. Zuvor war er Kapellmeister2 an der Deutschen Oper Berlin und dirigierte auch an der Staatsoper Berlin, außerdem arbeitete er häufig mit der Israelischen Oper zusammen.

Daniel war Assistent von Pierre Boulez an der Lucerne Festival Academy und geht seiner Leidenschaft für zeitgenössische Musik heute als künstlerischer Leiter des Gropius-Ensembles nach.  Als Geiger war Daniel ein langjähriges Mitglied des West-Eastern Divan Orchestra, wo er auch Assistenz-Dirigent von Daniel Barenboim war.

 

Deutsche Übersetzung von Sonja Bühling.

Daniel Cohen Opera with a Hot Toddy

Die Leidenschaft, etwas von mir zu vermitteln, ist die Grundlage unseres Berufs.

 

DT: Wir beginnen mit einer Schnellfragerunde. Wenn du mit einer Person aus der Geschichte essen könntest, wen würdest du wählen?

 

DC: Verdi. Ich glaube, er ist der einzige gute Kerl unter den meisten Komponisten.

 

DT: Nenne mir einen Song, der dich auf die Tanzfläche holen würde.

 

DC: Ich glaube nicht, dass der schon geschrieben wurde.

 

DT: Wenn du kein Musiker wärst, was wärst du dann?

 

DC: Ein Gärtner.

 

DT: Hast du eine Lieblingsoper?

 

DC: Wozzeck [von Alban Berg]. Ich habe es vor einiger Zeit einmal ohne Probe dirigiert, und ich kann es kaum erwarten, es wieder zu tun.

 

DT: Lieblingskomponist?

 

DC: Mozart.

 

DT: Kannst du dein `Hot Toddy´ oder dein anderes Getränk in drei Worten beschreiben?

 

DC: Im Moment trinke ich ein alkoholfreies Getränk mit einer halben Zitrone zusammen mit Zitronensaft, Zitronenblüten, Nelken, Zimtstangen, Honig und frischem Ingwer. Es ist sehr aufwendig, ein Meisterwerk!

 

Daniel Cohen Opera with a Hot Toddy
Daniel Cohen dirigiert das Orchester auf der Bühne des Staatstheaters Darmstadt, November 2018. Foto von Guido Schiek.

 

DT: Du hast an der Royal Academy of Music in London studiert, und nachdem du dort angefangen hast, Violine zu studieren, bist du in den Dirigierkurs eingetreten, der von Colin Metters geleitet wurde, inklusive einer Gastprofessur von George Hurst. Kannst du mir ein wenig über deine Zeit dort erzählen?

 

DC: Ich war zum ersten Mal dort, als ich kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag stand. Ich sah, dass dort Vorspiele stattfanden, und fragte meine Mutter, ob sie meine Reise nach London [aus Israel] als Geburtstagsgeschenk in Betracht ziehen würde, damit ich vorspielen könnte.

 

Es war wirklich eine Ausrede, um London sehen zu können, die Stadt, von der ich immer gehört hatte, weil meine Großmutter mir immer Gedichte von T.S. Eliot als Gute-Nacht-Geschichten vorlas, und ich wollte diesen “gelben Nebel” sehen, von dem er in seinen Gedichten spricht. Ich wurde angenommen, Violine und Dirigieren zu studieren, und so begann ich nach einem Jahr Violine mit dem Dirigierkurs, der drei Jahre lang dauerte.

 

Der Dirigierkurs war sehr interessant. Um das Fundament der Körpersprache zu bilden, war Colin Metters sehr gut – extrem genau. Er hatte eine Lehrmethode, bei der man eine Trennung zwischen Ausdruck und Technik vornehmen musste, so dass man seine Technik dazu nutzen konnte, seinen Ausdruck zu diktieren, und nicht umgekehrt, was eine brillante Idee ist.

 

Ich fand es extrem schwer; es widerspricht ein wenig meinem Charakter, Dinge zu trennen und über eine musikalische Phrase nachzudenken, während ich meinen musikalischen Impuls ignoriere. Aber ich erkenne den Wert. Es hat viel Zeit gekostet, eine Sprache der Kommunikation zu finden. Er lehrte mehr die Metaphysik des Dirigierens: was innerhalb der Geste geschieht und wie man sie kontrolliert, Größe und Geschwindigkeit.

 

Und dann hatten wir George Hurst, der ein phänomenaler Musiker war, und ich habe viel gelernt, indem ich ihm zugesehen habe. Er hatte eine Art, das Timing der Musik zu kontrollieren, eine Art, um die Ecke zu gehen, die sehr englisch war, fast so wie Thomas Beecham früher, und die wirklich meisterhaft war: sehr old-school, sehr elegant.

 

Er war auch sehr explosiv und hatte ein echtes Temperament, aber seine Art, die Schülerinnen und Schüler dazu zu bringen, sich auf den Kern der Partitur zu konzentrieren und nicht auf das, wozu man Lust hatte, war eine sehr gute Lektion fürs Leben. Ich erinnere mich, als wir mit ihm Brahms’ 3. Sinfonie mit zwei Klavieren spielten, sprach er ein wenig über den Anfang.

 

Jemand stand auf und begann, die ersten beiden Zeilen zu dirigieren, und Hurst fing an, ihn anzuschreien; er rief ihm zu, dass der Schüler den Kampf bereits verloren habe und dass das ganze Stück aufgrund dessen, was er getan hatte, verloren sei! Hurst geriet in einen Wutanfall, und dann nahm er dem Studenten den Taktstock weg, ging auf das Podium und fuhr fort, die gesamte Symphonie zu dirigieren.

 

Es war die beste 3. Brahms, die ich je gehört habe. Einfach hervorragend, vor allem das Tempo des dritten Satzes, das unglaublich, einfach unvergesslich war. Er kam jedes Mal eine Woche lang zu Besuch, und wir hatten immer eine Wette abgeschlossen, wer am Ende in den Seilen hing, denn bei jedem Besuch gab es ein Opfer!

 

Colin Davis hielt auch einmal pro Semester Meisterklassen ab, was eine große Inspiration war. Er war nicht besonders daran interessiert, Dirigieren zu unterrichten, aber sein Musizieren war wirklich inspirierend. Sein Schwerpunkt bei der Arbeit mit Dirigenten war, dass man den Taktstock nicht als Stock benutzen durfte. Man kann ihn als Dolch oder Feder benutzen, aber man muss mit ihm malen oder etwas damit ausdrücken.

 

Daniel Cohen Barenboim Opera with a Hot Toddy
Daniel Cohen mit Daniel Barenboim, der 2011 das West-Eastern Divan Orchester dirigiert. Foto von Benjamin Ealovega.

Barenboim ist ein akribischer Denker, und aus diesem Grund ist es recht einfach, ihm in einer Idee zu folgen.

DT: Hast du zu dieser Zeit bereits im West-Eastern Divan Orchestra gespielt? Kannst du mir mehr über deine Erfahrungen als Geiger in diesem Orchestern erzählen?

 

DC: Ja, ich glaube, ich habe etwa zur gleichen Zeit begonnen, etwa 2003. Es war eine Familie. Wir sind zusammen aufgewachsen und wir waren alle mehr oder weniger gleich alt, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Hintergründen. Heute ist es lustig, darüber nachzudenken, aber damals war es das erste Mal, dass ich jemanden aus der arabischen Welt traf, der nicht in Israel lebte.

 

Meine Partnerin wuchs in Jerusalem auf, wo die Rassentrennung viel weniger ausgeprägt war als bei mir, aber wo ich war, lebte der einzige Freund palästinensischer Abstammung, den ich hatte, in Nazareth, und er spielte auch im Orchester. Wir haben zusammen an der Akademie in Tel Aviv studiert und gemeinsam Kammermusik gespielt.

 

Ich hatte noch nie jemanden aus Syrien oder dem Libanon oder Ramallah oder irgendwo in dieser Gegend kennengelernt, daher war es ein ziemlicher Schock, Menschen kennenzulernen, und das Interessanteste war, dass wir sechs oder sieben Wochen lang zusammen lebten und sehr hart arbeiteten, wobei wir oft um den halben Globus reisten, um nach Südamerika oder Europa zu gelangen. Wir sind überall gemeinsam hingefahren.

 

DT: Gab es musikalische Projekte, die dir in Erinnerung geblieben sind und die dir besonders gut gefallen haben?

 

DC: Sicher. Wir haben so viel gemacht. Wir begannen mit strukturierten Proben für eine ganze Woche. Der ganze Sommer war [Beethovens] Eroica und die Unvollendete [Symphonie von Schubert]. Das erste Jahr war außergewöhnlich. Mit der Zeit wurde das Orchester immer professioneller, aber am Anfang war es eine sehr homogene Gruppe.

 

Wir hatten Leute, die später in der Berliner Philharmonie und der Bayerischen Staatsoper [in München] spielten, wir hatten aber auch Leute von beiden Seiten, die entweder Studenten oder fortgeschrittene Amateure waren.

 

Das Projekt in Ramallah zu spielen, sticht für mich ganz besonders heraus. Es war damals schon unkonventionell, aber heute wäre das völlig undenkbar. Es gibt einen sehr interessanten Dokumentarfilm über die Reise, die wir unternommen hatten. Es war das Ende der Tournee und das Orchester musste sich aufteilen. Wir konnten natürlich nicht alle zusammen reisen, weil die Israelis auf Diplomatenpässe umsteigen mussten, da es uns nicht erlaubt war, auf normalem Wege dorthin zu kommen.

 

Alle Araber konnten nicht durch Israel reisen, weil sie den Stempel aus Israel nicht haben durften, also mussten sie durch Jordanien reisen und dort auf einen Diplomatenpass umsteigen. Das war ein ganz schöner Akt. Und dann spielten wir Beethovens Fünfte Symphonie, und es war ein unvergessliches Ereignis.

 

DT: Hast du da Daniel Barenboim zum ersten Mal getroffen?

 

DC: Ja, er kam und probte zwei Wochen lang dieses Programm, drei Proben pro Tag, also er probte wirklich jeden Harmoniewechsel, jeden Fingersatz, jeden Bogen, jede Geschwindigkeit und jede Vibrato-Geschwindigkeit, einfach alles. Als das Konzert stattfand, kannte jeder das Stück von allen Seiten und kannte den Part des anderen. Als wir auf Tournee gingen und die Akustik überprüften, fingen wir sogar an, die Symphonie ohne ihn allein zu spielen, weil wir sie so gut kannten. Es war wirklich eine magische Erfahrung, die man in einer anderen Konstellation nicht machen kann.

 

Ich kann mich daran erinnern, dass ich [Wagners] Tristan und Isolde gespielt habe, das mit den israelischen Blechbläsern begann. Sie gingen zu Barenboim und sagten: “Wir bekommen nie die Chance, das zu spielen, weil wir es in Israel nicht spielen dürfen. Sie sind eine solche Institution in diesem Repertoire. Könnten Sie sich vorstellen, nur eine Probe zu machen und die Noten mit uns einfach etwas zu lesen? Und er sagte: “Wenn Sie die Zustimmung des gesamten Orchesters dafür gewinnen, dann mit Sicherheit”.

 

Es eskalierte, wie man es sich nicht vorstellen mag. Es gab Kämpfe und Geschrei. Eine der Cellisten sagte, dass ihre Großmutter, die eine Überlebende von Auschwitz war, mit ihr telefonierte und sagte: “Wenn du das spielst, dann bist du, wenn du nach Hause zurückkommst, nicht mehr meine Enkelin”. Es war also keine leichte Entscheidung.

 

Am Ende wurde entschieden, dass man nicht zwangsläufig teilnehmen müsse, aber es waren genug für eine deutliche Mehrheit, um uns eine Probe zu ermöglichen. Barenboim sagte die unvergesslichen Worte “Ok, nehmen wir uns den Morgen frei und beginnen um 11 Uhr”.

 

Er begann am Klavier, drei Stunden ohne Noten, und sprach über Wagner, seine Lebensgeschichte, warum seine Musik wichtig ist, warum seine Musik umstritten ist, den historischen Kontext von allem, wobei er immer wieder musikalische Beispiele demonstrierte. Nach drei Stunden fingen wir an, das Vorspiel von Tristan zu spielen. Barenboim arbeitete vielleicht 25 Minuten an den ersten beiden Takten.

 

Das war wirklich außergewöhnlich. Dann machten wir eine Pause und beschlossen, zum Abschluss des Tages einen Durchlauf zu machen. Die Sopranistin Waltraud Meier, die dabei war, weil sie mit uns auf Tournee Beethovens 9. sang, hörte zu und fing einfach an, mit uns zu singen. 

 

DT: Barenboim wurde danach zu einem Mentor für dich. Was, würdest du sagen, sind die wichtigsten Dinge, die er dir als Musiker beigebracht hat?

 

DC: Ich glaube, bei ihm ist es vielleicht einfacher, eine konkrete Antwort zu geben als bei vielen anderen Lehrern, denn der Grund, warum er ein so guter Lehrer und gleichzeitig ein großartiger Dirigent ist, liegt darin, dass er die einzigartige Fähigkeit besitzt, dem Orchester und seinen Schülern verbal zu erklären, was er meint; wie er seinen Klang aufbaut, wie er die Phrasierung aufbaut, wie er die Struktur des Satzes aufbaut.  

 

Er könnte damit ein Buch füllen und immer noch nicht alles gesagt haben, aber besonders beim Geigenspiel hat er mir viel über die Geschwindigkeit des Bogens, die Intensität des Bogens, den Fingersatz, die Orchestergriffe, wo man auf welcher Saite für welchen Effekt spielen sollte, beigebracht. Das Ausbalancieren war eine große Sache für ihn; wenn ich heute noch an der Intonation arbeite, verwende ich das, was er uns gelehrt hat, denn ohne eine gute Balance klingt die Musik immer verstimmt.

 

Barenboim ist ein akribischer Denker, und aus diesem Grund ist es recht einfach, ihm in einer Idee zu folgen. Du kannst das in den Büchern sehen, die er veröffentlicht hat; sie sind fast wie ein Handbuch. Sie geben einem eine Idee, mit der man konkret arbeiten kann, was bei Musiklehrern oft nicht der Fall ist.

 

Für viele andere Lehrer hat es mit Inspiration zu tun, mit Nachahmung, es ist fast ein metaphysischer Leitfaden, wie es bei Colin Davis der Fall war. Davis sagte während der Eroica Dinge wie: “Man muss es wirklich ernst nehmen. Heute ist vielleicht nicht Ihr Begräbnis, aber eines Tages wird es da sein, also müssen Sie sich das wirklich vorstellen”.

 

Es hatte also viel mit Inspiration und Bildsprache zu tun, was wirklich interessant und hilfreich war, aber es war nichts, was man wirklich quantifizieren oder verbalisieren konnte. Bei Barenboim haben wir oft ein sehr komplexes Stück gemacht, und er hat es auseinandergenommen, um alles verständlich zu machen.

 

 

 

Daniel Cohen Boulez Opera with a Hot Toddy
Daniel Cohen mit Pierre Boulez beim Lucerne Festival, 2009.
Foto von Priska Ketterer.

Als ich das erste Mal [für Boulez] dirigierte, schaffte ich es gerade so, den Abschnitt zu beenden…und das Orchester schlug mit den Bögen auf den Notenständer, um zu sagen: “Gut gemacht, Sie haben es überlebt”. Boulez lachte nur, schaute mich an und sagte: “Nun, ja, sehr gut, aber Sie wissen, dass das nicht ganz präzise war.”

 

DT: Eine weitere wichtige Persönlichkeit, dem du als musikalischer Assistent zur Seite standest, war Pierre Boulez, mit dem du beim Lucerne Festival zusammengearbeitet hast. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm?

 

DC: Weißt du, ich weiß nicht, ob mein Eindruck von ihm falsch ist oder ob ich eine andere Person als in den Geschichten, die erzählt werden, kennengelernt habe. Vielleicht war er anders, weil er schon sehr alt war. Er hatte gegenüber dem Orchester sehr trockene Kommunikationseigenschaften.

 

Er hatte definitiv kein Feuer an Emotionen, aber die persönliche Arbeit mit ihm war immer sehr warmherzig. Für uns, seine Assistenten, war er ein sehr lustiger Mensch, immer sehr charmant, aber mit dem Orchester konnte er ziemlich hart sein. Das Werk selbst unterschied sich in der Tat nicht sehr von der Arbeit mit Barenboim.

 

Die Arbeit hatte viel mit Textur zu tun, er brachte die Textur an einen Punkt, an dem man sie in einer Einheit, die aus vielen Elementen besteht, wirklich in seinen Ohren einfangen kann. Deshalb klang es, wenn er Debussy oder Berg dirigierte, so interessant, weil man das Gefühl hatte, dass man wirklich jeder Stimme folgen konnte. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er sich so sehr mit dem Klang beschäftigt hat, im Gegensatz zu Barenboim, für den die eigentliche Tonerzeugung das Wichtigste ist.

 

Bei Boulez hatte ich das Gefühl, dass der Ausgangspunkt darin bestand, die Partitur verständlich zu machen. Es war interessant, mit Boulez an seiner eigenen Musik zu arbeiten, denn man hatte das Gefühl, dass er aufgrund der physischen Art, wie er dirigierte, recht präzise war. Die Menge an Rubato, die er in seinen Stücken machte, war außergewöhnlich, überwältigend.

 

Wenn du dir zum Beispiel seine Aufnahme von Notationsnotizen anhörst, wirst du sehen, dass er seiner Partitur in fast jedem Takt widerspricht. Es ist eine ebenso freie Interpretation wie jeder italienische Spitzendirigent, der Puccini dirigiert. Wenn da eine Explosion von Farbe oder Resonanz war, hat er immer Zeit gegeben, nachzuklingen, und er wäre niemals vorwärtsgestürmt, nur weil es sich um einen 11/8-Takt gehandelt hat. Stattdessen hat er sich Zeit genommen.

 

Das erste Mal, als ich mit Boulez arbeitete, war an seinem Stück Répons, das sehr knifflig war. Es hat einen großen motorischen Teil, und es ist nicht in einem bestimmten Takt geschrieben, es ist also nur eine Sammlung von kurzen Notizen. Man hat nur einen Puls, und man muss den Takt entsprechend der Anzahl der Noten verlängern und verkürzen, was eine ca. dreiwöchige Studie bedeutete, um diese drei Minuten Musik zu dirigieren.

 

Als ich das erste Mal dirigierte, schaffte ich es gerade so, den Abschnitt zu beenden, wie ein Stierkämpfer, der sich am Ende eines Rodeos festhält, und das Orchester schlug mit den Bögen auf den Notenständer, um zu sagen: “Gut gemacht, Sie haben es überlebt”. Boulez lachte nur, schaute mich an und sagte: “Nun, ja, sehr gut, aber Sie wissen, dass das nicht ganz präzise war.“

 

Später, als der Teil vorbei war und der Glockenteil begann, sagte er: “Warum dirigieren Sie so, als wäre es neue Musik?“ Ich habe den Rhythmus sehr rigoros eingehalten, aber er sagte: “Sie müssen den Klang nachhallen lassen und hören, dass er wirklich fertig ist und akustisch das tut, was er tun muss. Es muss nicht strikt sein: Es ist eine Konstruktion.“

Foto von Benjamin Ealovega

Eine gute Zusammenarbeit ist, wenn der Dirigent mit den Augen als Zuschauer und der Regisseur mit den Ohren arbeitet.

 

DT: Wann hast du begonnen, in der Oper zu arbeiten?

 

DC: Die Oper war eine sehr späte Ergänzung in meinem Leben. Ich bin mit dem Geigenspiel und als Symphoniker aufgewachsen. Es gab eine Situation in der israelischen Oper, als der Musikdirektor wegging und eine große Leere zurückgelassen hat. Die verantwortliche Person rief mich an und fragte, ob ich bei den nun freien Aufführungen assistieren und sie dirigieren wolle.

 

Welcher junge Dirigent würde zu sechzehn Rigolettos oder so etwas in der Art nein sagen? Aber um ehrlich zu sein, habe ich viel zu früh und noch bevor ich überhaupt in der Lage war, Opern zu dirigieren, angefangen. Man kann bei der Arbeit lernen, und manches davon war besser, manches nicht.

 

DT: Wie siehst du deine Rolle, wenn du eine Oper dirigierst?

 

Ich denke, es ist ein großer Unterschied zwischen Oper und symphonischer Musik. Bei einer Symphonie hat man die Verantwortung, das Orchesterstück zu ermöglichen, das eigentlich autonom ist. In der Oper ist die Musik ein Teil des Geschehens, also ist das, was die Orchestermusiker und die Sänger von dir brauchen, ganz anders. Es ist nicht so, dass [das Dirigieren von Opern] weniger ausdrucksstark wäre, es hat mehr damit zu tun, dass die Künstler ein anderes Temperament von dir benötigen.

 

Wenn man die erste Symphonie von Mahler dirigiert und das Orchester mit dir einen Sturm aufpeitscht und man zusammen ist und sich darauf konzentriert, etwas zu tun, ist es eine andere Stimmung des Ausdrucks als wenn man unten im Orchestergraben ist und der Sänger auf dem Kopf steht, von der Decke hängt und mit einem Schrei oder einem leisen Ton oder was auch immer hereinkommen muss. Die Sänger sind diejenigen, die es performen müssen, und ich bin derjenige, der es ihnen leicht machen muss. Es gibt eine andere Stimmung der Zusammenarbeit.

 

Ein Großteil deiner Arbeit besteht darin, sie visuell mit deiner Sprache, deiner Gestik, deinem Ausdruck zusammenzubringen, aber auch dafür zu sorgen, dass man dem Sänger und dem Orchester praktisch das gibt, was der Sänger und das Orchester wissen müssen, wo, wie und mit welcher Artikulation, Dynamik, all das.

 

DT: Wenn du zum ersten Mal eine neue Partitur einer Oper vor dir hast, wie bereitest du sie dann vor?

 

DC: In der Oper bin ich etwas benachteiligt, in dem Sinne, dass mein Italienisch einigermaßen in Ordnung ist, mein Deutsch nicht brillant und mein Französisch im Grunde nicht vorhanden ist. Deshalb brauche ich normalerweise etwas mehr Zeit als der durchschnittliche Dirigent, um das Libretto zu studieren.

 

Wenn ich kann und genügend Zeit habe, versuche ich immer, das Libretto ohne die Musik zu studieren, also nehme ich eine gute Übersetzung, bei der jedes Wort übersetzt wird, studiere die Bedeutung und die Poesie, lerne, wie man es ausspricht, und studiere dann die Gesangslinien, indem ich sie singe. Ich bin ein ziemlich schrecklicher Sänger, aber ich finde, wenn ich es singen kann, dann kann ich es immer begleiten, weil ich lerne, was nötig ist oder welche Herausforderungen in der Phrasierung oder im Atem liegen.

 

Danach fügt sich alles zusammen, natürlich ist das leichter im italienischen Belcanto-Repertoire als bei Wagner, denn bei Wagner ist es ein bisschen anders. Wenn ich Wagner studiere, studiere ich das Libretto, und dann muss ich alles auf einmal von allen Seiten studieren. 

 

DT: In welchem Opernrepertoire fühlst du dich am wohlsten?

 

DC: Am häufigsten habe ich Mozart gemacht, was ich immer als eine sehr freudige Erfahrung empfinde.

 

DT: Was erwartest du von einem Regisseur?

 

DC: Zusammenarbeit. Was mir nicht gefällt, ist das Gefühl, dass wir zur ersten Probe kommen, damit wir die Fantasie des Regisseurs umsetzen können. Wenn man mit der Arbeit beginnt, geht es darum, gemeinsam eine Interpretation aufzubauen, und die Regie beeinflusst die Musik und umgekehrt. Dann ist es ein interessanter Prozess.

 

Für mich macht es keinen Unterschied, um welche Art von Inszenierung es sich handelt. Eine gute Zusammenarbeit ist, wenn der Dirigent mit den Augen als Zuschauer und der Regisseur mit den Ohren arbeitet. Es ist ein Prozess des gemeinsamen Aufbaus.

 

Deshalb war die Zusammenarbeit mit Andrea Moses [an Wagners Lohengrin in Darmstadt] so gut: Sehr oft hat die Art und Weise, wie ich eine Phrase machte, etwas in ihrer Regie oder der Schauspieler etwas in meiner Interpretation ausgelöst, es war also wirklich eine freudige Erfahrung.

 

DT: Worauf achtest du, wenn du einen Sänger aussuchst?

 

DC: Ich kann es nicht genau sagen, aber ich weiß es, wenn ich es sehe! Manchmal kommt jemand auf die Bühne und singt, und wir sehen uns alle an und sagen: “Ja, das ist es”. Wenn das passiert, dann weiß man es. Wenn es nicht passiert, dann versucht man, sich für die beste Person zu entscheiden, die man bekommen kann.

 

Manchmal geht man ein Risiko ein und denkt: “Okay, das ist nicht hundertprozentig sicher, aber das ganze Paket ist das Risiko wert”. Und manchmal denkt man, es ist nicht wirklich das ganze Paket, aber es ist sehr sicher, und vielleicht ist das wichtiger für diese Rolle. Ich würde niemanden nehmen, der gut singt, aber auf der Bühne langweilig ist. Aber natürlich aufgrund dessen, wie ich die Welt sehe, ist natürlich die Musik meine Priorität.

 

Für die Theaterleute ist die Priorität Bühnenpräsenz, und so liegt es in der Natur der Sache, dass wir, wenn wir in einem Gremium beraten, was immer der Fall ist, uns gegenseitig angleichen.

 

DT: Was würdest du einem jungen Dirigenten raten, der in der Oper arbeiten möchte?

 

DC: Sprachen lernen. Mach nicht den Fehler, den ich gemacht habe, und glaub nicht, dass man das nachholen könnte. Lerne Sprachen, am besten gestern!

 

DT: Wo siehst du die Oper in 100 Jahren? Wo wird sie sein und wie wird sie aussehen?

 

DC: Im Moment kann ich dir nicht mal sagen, wo die Oper in 100 Tagen sein wird, weil sich die Welt um uns herum schneller verändert, als wir [aufgrund der Coronavirus-Pandemie] erwartet haben. Im Moment ist die Situation in Deutschland viel besser als an vielen anderen Orten, und die Priorität, die die Kunst in Deutschland hat, ist wesentlich besser als an anderen Orten.

 

Der Platz, den die Kultur im deutschen Leben einnimmt, ist wirklich unübertroffen. Ich hoffe, dass irgendwann, wenn sich die Dinge wieder normalisieren und wir vor einer großen Zahl von Menschen spielen können, alles weitergehen kann.

 

Ich glaube nicht, dass Oper sich allzu sehr verändern muss – sie ist eine Kombination von Kunstformen, die etwas schafft, das größer ist als die Summe seiner Teile. Wenn man über diese Definition von Oper nachdenkt, hat sie sich von Monteverdi bis Donizetti, von Wagner bis Thomas Ades nicht wirklich verändert. Die Leidenschaft, etwas von mir zu vermitteln, ist die Grundlage unseres Berufs.

 

 

Vielen Dank an Daniel Cohen für seine faszinierenden Einblicke und seine Offenheit in der Diskussion in dieser Woche. Weitere Informationen über Daniel, einschließlich Einzelheiten zu seinen bevorstehenden Auftritten, finden Sie hier auf seiner Website. Wie immer bitten wir Sie, uns Ihre Meinung zu hinterlassen und uns Ihre Vorschläge für zukünftige Interviews mitzuteilen!

 

 

Anmerkung und Links

 

  1. Ein(e) Generalmusikdirektor(in) (GMD) ist der musikalische Leiter eines Theaters im deutschen Opernsystem. Er/sie ist ein Dirigent(in), der/die für die musikalische Programmgestaltung und Planung, die künstlerische Leistung des Musikpersonals und der Sänger verantwortlich ist, und hat das erste Wort darüber, was sie in einer Spielzeit dirigieren wird. Sie haben auch einen starken Einfluss auf alle Besetzungsentscheidungen des Theaters.

  2. Ein Kapellmeister(in) ist auch ein Dirigent(in). Nach dem GMD haben sie in der Regel die zweite Wahl bei den Aufführungen, die sie dirigieren werden. Häufig gibt es in einem Theater einen ersten und einen zweiten Kapellmeister(in). 

 

  • Der Dirigierkurs an der Royal Academy of Music wird jetzt von Sian Edwards geleitet. Mehr über den Kurs können Sie auf ihrer Website hier lesen.
  • Das West-Eastern Divan Orchestra (Link hier) wurde 1999 gegründet. Sein Ziel ist es, die Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern zu fördern und den Weg für eine friedliche und faire Lösung des arabisch-israelischen Konflikts zu ebnen.
  • Das Lucerne Festival (Link hier) wurde 1938 gegründet und lädt jedes Jahr Spitzenmusiker aus aller Welt an einen idyllischen Ort am Vierwaldstättersee, im Herzen der Schweiz, ein. Leider wurde das Festival 2020 aufgrund der Pandemie COVID-19 abgesagt.

 

 

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